Anlässlich des Erscheinens der ersten deutschsprachigen Ausgabe von Charlie Hebdo schwang sich das deutsche Politmagazin Cicero zum Humorkritiker auf. Das konnte nicht gut gehen.
«Langweilig», «schal», «lieblos
zusammengekehrt», «moralinsäuerlich», «erschütternd banal», «schülerzeitungshaft»
– das konservative Edelmagazin lässt am linken Satireblatt kein gutes Haar:
«Humorgehalt und Erkenntnisgewinn gleich null». Der Tonfall, in dem das Ganze
vorgetragen wird, ist erregt, um nicht zu sagen enragiert, und lässt keinen
Zweifel daran, dass hier jemand empört, ja geradezu persönlich beleidigt ist.
Im Anschluss an die Ermordung von zwölf Charlie-Mitarbeitern im Januar 2015
durch fanatisierte Underdogs hatte sich der Freie Westen mit großem Pathos
solidarisch erklärt; das französische Satireblatt wurde zum Symbol der
Meinungsfreiheit, zum demokratischen Bollwerk gegen Fanatismus und Terrorismus;
seine Mitarbeiter waren Helden, da sie sich dem Terrorismus nicht beugten,
sondern widerstanden und unverdrossen weitermachten. Charlie wurden die höchsten Weihen des Pressewesens verliehen – der Preis
für Meinungsfreiheit des amerikanischen PEN, der Preis des M100 Sansscouci
Colloquium in Potsdam –, die Auflagenzahl schoss in ungeahnte Höhen, so
dass das kleine Blatt offensichtlich bald in Geld schwamm.
Dass hier auf mehreren Ebenen ein
Missverhältnis vorlag, hätte jedem ins Auge fallen können und aufstoßen müssen,
oder man hätte einfach auf Chefredakteur Gérard Biard hören können, der in
seiner Dankesrede in Potsdam sagte: «Innerhalb weniger Minuten, in der Folge
eines furchtbaren Anschlags, wurden wir zu einem weltweiten Symbol, zum
Inbegriff der Meinungs- und Gewissensfreiheit. Wir wurden zu Helden ... Lassen
Sie mich Ihnen eines sagen: Das ist nicht unsere Aufgabe. Niemand bei Charlie Hebdo hat sich darum beworben,
ein Held zu sein. Es ist nicht die Rolle einer Zeitung, und schon gar nicht
einer Satirezeitung, ein Symbol zu sein.»
Doch die Menschen wollten nicht hören. Charlie Hebdo stand für freie
Meinungsäußerung, also für den Freien Westen, also für uns alle, es ging hier
nicht um die schreckliche Ermordung von zwölf Menschen durch
instrumentalisierte Loser, sondern um einen «Anschlag gegen die Freiheit» (FAZ
et al.)
Jede Überhöhung zum Symbol funktioniert
nur, indem man das konkrete Objekt, das dem Symbol zum Anlass dient, möglichst
nicht zu genau unter die Lupe nimmt. Der zahlungskräftige Philanthrop entpuppt
sich sonst leicht als geschickter Steuerhinterzieher, der mächtige Politiker
als Marionette, und der Filmstar ist im wirklichen Leben immer einen Kopf
kleiner als gedacht. Im Falle Charlie
Hebdo äußerte sich diese Verleugnungsstrategie nicht zuletzt darin, dass
reflexhaft und ohne jede Ausnahme in allen Berichten stets vom «Satiremagazin» Charlie Hebdo die Rede war. Dabei ist Charlie eindeutig keine Zeitschrift (magazine), sondern kommt als Zeitung (journal) daher, als sehr dünne sogar: Mit
seinen mal gerade sechzehn Seiten Umfang erinnert sie mehr an eine Witzbeilage,
an klassische «Funny Papers», die einst der seriösen Zeitung allwöchentlich
am Wochenende beigelegt wurden.
Insofern ist es wirklich unverzeihlich von Charlie, dass es jetzt auf deutsch
erscheint und den Träumereien vom Hochglanzfreiheitsmagazin auf so drastische
Weise ein Ende bereitet. Zumindest der Cicero
fiel denn also aus allen Wolken und machte den Franzosen ernsthaft den Vorwurf, dass ihr Satireblatt «auf schlechtem Papier» gedruckt sei. Lieber
Cicero, sie nennen es «Zeitungspapier». Charlie
Hebdo ist auf Zeitungspapier
gedruckt! Und ja, es hat nur sechzehn Seiten! Nicht mehr. Nicht 130 (Cicero), nicht 66 (Titanic), nicht 48 oder 32. Sondern 16 (sechzehn). Und das hätte
man auch schon vor zwei Jahren bemerken können, als die Ausgabe vom 14. Januar
mit dem weinenden Mohammed sicherlich in allen bundesdeutschen
Feuilleton-Redaktionen gelegen hat. Bei der Gelegenheit hätte man auch zur
Kenntnis nehmen können, daß es sich bei Charlie
Hebdo nicht nur formal, sondern auch inhaltlich nicht um ein Pendant zur deutschen Titanic handelt. Ein kurzer Blick in eine beliebige Charlie-Ausgabe hätte genügt, um zu
sehen, dass das Blatt zum Beispiel jener klassischen politischen Karikatur verpflichtet ist,
die in der Titanic allenfalls als
Parodie vorkommt. Wie überhaupt in der Titanic
das parodistische Element vorherrscht und die klassische Satire nur eine sehr
untergeordnete Rolle spielt (tatsächlich könnte wohl – anders als zum Beispiel
der Tagesspiegel in seiner
Besprechung der deutschen Charlie-Ausgabe
behauptet – keiner der Charlie-Beiträge
so in der Titanic erscheinen und vice
versa).
Charlie ist darüber
hinaus aber auch echte Zeitung, mit Reportagen, Berichten und Rezensionen, die
in aller Regel nicht witzig sind, weil sie nicht witzig sein wollen.
Wie gesagt, all das hätte man früher wissen
können. Jetzt ernsthaft empört zu reagieren, als sei man hinters Licht
geführt worden, ist lächerlich und heuchlerisch. Heuchlerisch wie die Frage, mit der der Cicero seine
Abrechnung beschließt: «Wie konnte dieses Heft» (das wohlgemerkt auch kein Heft ist, da es nicht geheftet ist)
«jemals zur Legende werden?»
Der Cicero will es nicht wissen, aber eine
mögliche Antwort lautet: weil Charlie
Hebdo ein linkes, politisches
Periodikum ist, das seit Jahr und Tag für antirassistische, antimilitaristische,
feministische, ökologische, kurz: linke Positionen steht. Und wenn in der
deutschen Ausgabe in einer vierseitigen Reportage «Jan, Antifa-Aktivist, aus
Dresden» zu Wort kommt und «Udo, 58, Tankwagenfahrer für Shell» mit Worten wie:
«Was ich mir in Deutschland wünsche? Einen sozialeren Staat und dass die Armen
nicht immer ärmer werden», dann ist das dem «Magazin für politische Kultur» nur
ein abgestandenes «Gut, dass wir darüber geredet haben» wert.
Eine weitere Antwort lautet: weil Charlie Hebdo von 1970 bis 1982 sowie von 1992 bis heute Heimat für
hervorragende Zeichner und Texter war – namentlich für Cavanna, Wolinski, Gébé,
Coluche, Reiser, Cabu, Siné, Willem, Tardi, Charb, Sfar, Bernard Maris, Elsa
Caya, Kamagurka, Luz, Philippe Honoré, Tignous, Riss, Jul, Catherine, Coco, Riad
Sattouf ... Dass viele von diesen inzwischen eines natürlich oder
gewaltsamen Todes gestorben sind oder sich in die Depression verabschiedet
haben, ist bekannt. Dass Charlie nach
dem Mordanschlag vom Januar 2015 nicht mehr ist, was es mal war – d'accord. Aber wie immer man das heutige Charlie Hebdo einschätzen
mag, als Kritik getarnte Pöbeleien, wie die des Cicero, hat das Wochenblatt nicht verdient. Im Zweifelsfall gilt also immer noch: «Ich bin Karlheinz.»