Auf Facebook, wo ich den Blog-Text vom 25. August («Fernsehabend», s. u.) veröffentlichte, gab es eine Handvoll «Daumen hoch»-Reaktionen und sichtliches Kopfnicken in Form zweier Kommentare. Ich habe bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass es mir um Zuspruch eigentlich nicht ging. Da mir also niemand widerspricht, muss ich es eben selbst tun.
Denn natürlich weiß ich doch, was das Singuläre der systematischen Vernichtung der Juden in Europa durch die Deutschen ausmacht: die Vernichtung um ihrer selbst willen. Das kann man wohl zuweilen aus dem Blick verlieren, weil diese Tatsache so ganz und gar unfassbar ist.
Vernichtungswünsche existieren, möchte ich behaupten, in jedem Menschen. Unsere Wut richtet sich gegen Personen, die unserem geordneten Weltbild auf bedrohliche Weise in die Quere kommen. Im Alltag, aber besonders markant im großen Weltgeschehen. Trump, Bolsonaro, Le Pen – jeder hat da seine eigenen Hassgestalten. Man (ich) möchte Ihnen das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht schlagen und sie auf diesem Wege gleich ein für allemal zum Schweigen bringen. Sie sollen einfach weg sein! Wenn die nicht wären, wäre alles gut.
Das ist «primitives Denken». Natürlich wäre nichts gut. Wir personalisieren nun mal gern.
Man kann diesen Hass natürlich anheizen. Man kennt Lynch-Mobs. Der schwarze Junge, der ein weißes Mädchen angelächelt hat und an der Straßenlaterne endet. Man kennt Pogrome, denen die Juden in allen Jahrhunderten überall auf der Welt ausgesetzt waren. In beiden Fällen entlädt sich der sogenannte «Volkszorn». Was dabei in den Menschen (den Tätern) vor sich geht, kann man soziologisch und psychologisch analysieren. Der Philosoph René Girard hat den «Sündenbockmechanismus» beschrieben, der laut Girard kulturtragende Funktion hat. Menschen brauchen Sündenböcke, um die Gewalt zu kanalisieren, die latent in jeder Gesellschaft wirkt. Kennzeichen des Sündenbocks ist es, dass er mehr oder weniger austauschbar ist (und damit nachweislich unschuldig).
Beide Aspekte – der Wunsch, das Hassobjekt möge einfach «weg» sein bzw. die kathartische Opferung eines symbolischen «Schuldigen» – treffen auf den Holocaust eindeutig nicht zu.
Nachdem man die Juden in Deutschland nicht nur gezielt gedemütigt und misshandelt und nicht zuletzt enteignet hatte, ergriffen die meisten ja «von sich aus» (schon klar) die Flucht, emigrierten. Was wollte man denn noch mehr?
Und was die «kathartische» Funktion wie in früheren Pogromen angeht: Die eigentliche Vernichtung der Juden in den Gaskammern der Konzentrationslager vollzog sich auch in dem Sinn «im industriellen Stil», dass sie hinter geschlossenen (Tötungs-)Fabrik-Toren stattfand, also gerade nicht, wie in früheren Zeiten bei öffentliche Hinrichtungen, vor aller Augen – sondern so, dass meine Großeltern hinterher gewissermaßen glaubhaft beteuern konnten (ich höre den wimmernd selbstmitleidigen Ton noch heute): «Wir haben doch nichts davon gewusst!»
Das sowjetische Gulag-System war pervers-rational: Man schuf Arbeitssklaven für die nationalen Großbauprojekte und erzeugte damit gleichzeitig den nötigen Terror in der Bevölkerung, um jede Kritik im Keim zu ersticken. Das System der NS-Vernichtungslager war dagegen pervers-irrational.
Und dennoch tue ich mich schwer mit dem Begriff des «Singulären», nicht nur weil seine deutsche Übersetzung, das unangemessen positiv konnotierte «einzigartig», doch immer mitschwingt. Sondern auch, weil der Begriff angreifbar ist oder angreifbar macht. Ich will mich nicht auf die Diskussion einlassen, ob der Holocaust «einzigartig» ist, vor allem wenn daran die Überlegung geknüpft ist, ob der Staat Israel eine Existenzberechtigung habe oder nicht. Der Gedanke des Zionismus ist älter als der Holocaust, und er ist groß und erhebend, weil utopisch, wenn nicht revolutionär. Der Gedanke des Holocausts ist nur niederschmetternd. Auf den Gedanken des Zionismus muss sich die Diskussion (wenn man sie denn führen will) beziehen.
Theodor Herzl hat sein theoretisches Werk Der Judenstaat 1896 veröffentlicht und seinen utopischen Roman Altneuland 1902. Niemals hätte er für möglich oder auch nur denkbar halten können, was den Juden in Deutschland und ganz Europa dreißig Jahre später widerfahren sollte. Für ihn war das Maß bereits 1894 mit der Dreyfus-Affäre voll. In dem mit Gewinn und Genuss zu lesenden Roman unterrichtet ein Zionist der ersten Stunde, der aus Wien stammende David Littwak, zwei Besucher (die die letzten zwanzig Jahre von der Welt abgeschieden gelebt haben) davon, dass die Rückkehr der Juden nach Palästina stattgefunden habe.
«Sind Sie aus Europa ausgetrieben worden?», fragt einer der Besucher ungläubig. David erklärt: «Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen. Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten unleidlich gemacht ... Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten Mitteln tätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, dass die Juden die Presse – wie einst im Mittelalter den Brunnen – vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehasst, als Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wenn sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehasst, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, dass sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mussten. Das letztere ist geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.»
Dies also als Nachtrag zu Vorhergehendem. Ich hatte schon überlegt, den ganzen Gulag-Artikel zu löschen, habe dann aber anders entschieden. Es war mir zu dem Zeitpunkt wichtig, ihn zu schreiben, und auch er enthält eine Wahrheit. Außerdem ist dies ja nicht der Blog der unumstößlichen Gewissheiten, sondern.