Dienstag, 23. April 2019

Das Mohammed-Bild des Westens im Wandel der Zeit

Ein Gastbeitrag von John Tolan


Im 16. Jahrhundert eine Koran-Übersetzung veröffentlichen zu wollen, war ein heikles Unterfangen, man wollte schließlich nicht gottesfürchtige Christen verstören oder gar in Versuchung führen. So jedenfalls sah es der protestantische Rat der Stadt Basel und steckte im Jahr 1542 einen örtlichen Drucker kurzerhand ins Gefängnis, der beabsichtigt hatte, das heilige Buch der Muslime in einer lateinischen Fassung zu publizieren. Es war der Reformator Martin Luther der intervenierte und das Projekt rettete – mit der Begründung, es gebe keine bessere Art die Türken zu bekämpfen, als allen Menschen die „Lügen Mahomets“ vor Augen zu führen.


Mit der dann 1543 gedruckten Ausgabe hatten die europäischen Gelehrten also Gelegenheit, den Koran zu lesen und den Islam zu studieren, um ihn besser bekämpfen zu können. Aber es gab auch andere, die den Koran lasen, um die christliche Lehre in Frage zu stellen. Der katalanische Gelehrte Michael Servetus etwa fand im Koran viele Argumente für sein trinitätskritisches Werk Christianismi Restitutio (1553), in dem er Mohammed als Reformer lobt, der eine Rückkehr gepredigt habe zur reinen Lehre von der Einheit Gottes, die christliche Theologen mit ihrer irrationalen Dreieinigkeitslehre ad absurdum geführt hatten. Nach Veröffentlichung dieser häretischen Gedanken wurde Servetus von der katholischen Inquisition im französischen Vienne verurteilt und schließlich zusammen mit seinen Büchern in Calvins Genf verbrannt.


Zur Zeit der Aufklärung wurde Mohammed immer wieder auf diese Weise dargestellt: als antiklerikaler Streiter. Einige Denker betrachteten den Islam als Monotheismus in Reinkultur, nicht unähnlich dem philosophischen Deismus: ein rationaler Lobgesang auf den Schöpfer. 1734 veröffentlichte George Sale eine neue englische Übersetzung des Koran. In seiner Einleitung zeichnete er die Geschichte des frühen Islam nach und idealisierte den Propheten zu einem bilderstürmenden, antiklerikalen Reformer, der die abergläubischen Vorstellungen und Praktiken der frühen Christen abschaffte – die Heiligenverehrung, den Reliquienkult – und die Macht eines korrupten, habgierigen Klerus brach.


Sales Übersetzung des Koran fand große Verbreitung. Für viele Leser wurde Mohammed zum Symbol eines antiklerikalen Republikanismus. Nicht nur in England. Nordamerikas Gründervater Thomas Jefferson erstand im Jahr 1765 ein Exemplar bei einem Buchhändler in Williamsburg, Virginia. Die Sale’sche Koran-Übersetzung half ihm, einen philosophischen Deismus zu formulieren, der keine konfessionellen Grenzen kannte. (Seit 2007 wird Jeffersons Koran-Exemplar bei Amtseinführungen muslimischer Abgeordneter verwendet.) In Deutschland bezog vor allem Johann Wolfgang von Goethe Anregungen aus der Sale’sche Koran-Version. Für ihn war Mohammed ein inspirierter Poet und direkter Nachfolger der alttestamentarischen Propheten.

In Frankreich zitierte Voltaire die Sale’sche Übersetzung voller Bewunderung. In seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) beschreibt er Mohammed als begnadeten Reformer, der gegen den Aberglauben zu Felde zog und den korrupten Klerus entmachtete. Gegen Ende des Jahrhunderts formulierte der englische Historiker Edward Gibbon in seinem Hauptwerk, History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776 – 1789), eine glühende Eloge auf den Propheten:


Der Glaube Mohammeds ist frei von jedem Aberglauben und allen Mehrdeutigkeiten und der Koran ein erhabenes Zeugnis von der Einheit Gottes. Der Prophet aus Mekka verwarf jede Verherrlichung von Idolen und Menschen, von Sternen und Planeten, aufgrund der rationalen Einsicht, dass alles, was erhöht wird, auch erniedrigt werden wird, dass alles, was geboren wird, auch sterben wird, dass alles, was verfallen kann, verfallen wird. In dem Schöpfer des Universums bezeugte und verehrte er, mit der Begeisterung der Vernunft, ein unendliches und ewiges Wesen, das ohne Gestalt ist noch Raum, das ohne Eigenschaft ist noch Ähnlichkeit, das uns präsent ist in unseren verborgensten Gedanken, dessen Existenz sich allein seiner eigenen Notwendigkeit verdankt und das aus sich heraus alle geistige und moralische Vollkommenheit schöpft ... Als philosophischer Deist kann man diesen Glauben der Mohammedaner nur gutheißen, einen Glauben, der vielleicht zu erhaben ist für unser gegenwärtiges Vermögen.


Auf ganze besondere Weise von dem Propheten angesprochen fühlte sich Napoleon Bonaparte. Nach Lektüre der französischen Koran-Übersetzung durch Claude-Étienne Savary, die 1783 erschienen war, bezeichnete er sich selbst als einen «neuen Mohammed». Savary hatte seine Übersetzung in Ägypten geschrieben. Dort, umgeben vom Wohlklang der arabischen Sprache, versuchte er die Schönheit des arabischen Originals ins Französische zu übertragen. Wie Sale vor ihm schrieb Savary eine lange Einleitung, in der er Mohammed als «großen» und «einzigartigen» Mann beschreibt und als ein «Genie» auf dem Schlachtfeld, der die Menschen begeistern und mitreißen konnte. Napoleon las diese Übersetzung auf dem Schiff, das ihn 1798 nach Ägypten brachte. Beflügelt von Savarys Bild des Propheten als eines überragenden Feldherrn und weisen Gesetzgebers, unternahm Napoleon seinen Versuch, ein zweiter Mohammed zu werden. Er wollte die Kairoer ulama (Religionsgelehrten) davon überzeugen, dass er und seine französischen Soldaten als Freunde des Islam gekommen seien, um sie, die Ägypter, aus der ottomanischen Knechtschaft zu befreien.


Napoleons Bild vom Islam als dem unverfälschten Monotheismus war das Idealbild gelehrter Aufklärer. Infolge des Scheiterns seiner Ägypten-Expedition kam er zu dem Schluss, dass die Religion der Kairoer ulama vom wahren Islam abgewichen seien. Und doch war es nicht nur Napoleon selbst, der sich mit dem Propheten verglich. Goethe nannte den späteren französischen Kaiser den «Mahomet der Welt», und für Victor Hugo war er der «Mahomet d’occident». Napoleon seinerseits beschäftigte sich am Ende seines Lebens, im Exil auf St. Helena, schriftlich mit Mohammed und rühmte sein Vermächtnis als das eines «großen Mannes, der den Lauf der Geschichte verändert hat». Napoleons Mohammed – ein Eroberer und Gesetzgeber, beredt und charismatisch – ähnelt sehr Napoleon selbst. Allerdings einem Napoleon, dem am Ende mehr Erfolg beschieden war – der auf jeden Fall nicht auf eine windumtoste, öde Insel im Südatlantik ins Exil gehen musste. 


Das Bild von Mohammed als einem großen Gesetzgeber hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Adolph A. Weinman, ein amerikanischer Bildhauer österreichischer Abstammung, schuf 1935 einen Fries für den Saal des Obersten Gerichtshofs in Washington, D. C., auf dem Mohammed seinen Platz einnimmt unter den «achtzehn großen Gesetzgebern der Geschichte». Viele europäische Christen fordern von ihren Kirchen, dass sie Mohammeds wichtige Rolle als Prophet der Muslime anerkennen. Islamwissenschaftler wie der Katholik Louis Massignon oder der Vertreter der anglikanischen Kirche William Montgomery Watt sehen in einer solchen Anerkennung einen geeigneten Weg, um einen friedlichen, konstruktiven Dialog zwischen Christen und Muslimen zu befördern.


Der Dialog wird nach wie vor geführt, doch wird er zur Zeit übertönt vom Getöse der aktuellen Rechtsaußen-Populisten nicht nur in Europa, die Mohammed diabolisieren, um ihre islamfeindliche Politik zu rechtfertigen. Der holländische Politiker Geert Wilders nennt Mohammed einen Terroristen und pädophilen Psychopathen. Das Negativ-Image des Propheten wird paradoxerweise verstärkt von strenggläubigen Muslimen, die ihn vorbehaltlos verehren und sich jede Kontextualisierung seines Lebens und seiner Lehre verbitten, während sich gleichzeitig islamistische Terroristen berufen fühlen, Mohammed vor seinen «Beleidigern» zu schützen, indem sie ihre Mordanschläge verüben. All das ist Grund genug, einen Schritt zurückzutreten und sich die vielen, oft verblüffenden Bilder anzusehen, die der Westen von Mohammed im Laufe der Jahrhunderte gezeichnet hat. 


(Deutsch von H. A.)


J. Tolan, Mohammad: An anticlerical hero of the European Enlightment, in: Aeon, 1. April 2019. Der Autor ist Professor für Geschichte an der Universität Nantes. Der Artikel erschien im Zuge einer Ankündigung seines Buches Faces of Mohammad: Wester Perceptions of the Prophet of Islam from the Middle Ages to Today, 2019.


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