Freitag, 30. Dezember 2022

Nachtrag zu Vorhergehendem

Auf Facebook, wo ich den Blog-Text vom 25. August («Fernsehabend», s. u.) veröffentlichte, gab es eine Handvoll «Daumen hoch»-Reaktionen und sichtliches Kopfnicken in Form zweier Kommentare. Ich habe bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass es mir um Zuspruch eigentlich nicht ging. Da mir also niemand widerspricht, muss ich es eben selbst tun. 


Denn natürlich weiß ich doch, was das Singuläre der systematischen Vernichtung der Juden in Europa durch die Deutschen ausmacht: die Vernichtung um ihrer selbst willen. Das kann man wohl zuweilen aus dem Blick verlieren, weil diese Tatsache so ganz und gar unfassbar ist.


Vernichtungswünsche existieren, möchte ich behaupten, in jedem Menschen. Unsere Wut richtet sich gegen Personen, die unserem geordneten Weltbild auf bedrohliche Weise in die Quere kommen. Im Alltag, aber besonders markant im großen Weltgeschehen. Trump, Bolsonaro, Le Pen – jeder hat da seine eigenen Hassgestalten. Man (ich) möchte Ihnen das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht schlagen und sie auf diesem Wege gleich ein für allemal zum Schweigen bringen. Sie sollen einfach weg sein! Wenn die nicht wären, wäre alles gut. 

Das ist «primitives Denken». Natürlich wäre nichts gut. Wir personalisieren nun mal gern. 

Man kann diesen Hass natürlich anheizen. Man kennt Lynch-Mobs. Der schwarze Junge, der ein weißes Mädchen angelächelt hat und an der Straßenlaterne endet. Man kennt Pogrome, denen die Juden in allen Jahrhunderten überall auf der Welt ausgesetzt waren. In beiden Fällen entlädt sich der sogenannte «Volkszorn». Was dabei in den Menschen (den Tätern) vor sich geht, kann man soziologisch und psychologisch analysieren. Der Philosoph René Girard hat den «Sündenbockmechanismus» beschrieben, der laut Girard kulturtragende Funktion hat. Menschen brauchen Sündenböcke, um die Gewalt zu kanalisieren, die latent in jeder Gesellschaft wirkt. Kennzeichen des Sündenbocks ist es, dass er mehr oder weniger austauschbar ist (und damit nachweislich unschuldig).


Beide Aspekte – der Wunsch, das Hassobjekt möge einfach «weg» sein bzw. die kathartische Opferung eines symbolischen «Schuldigen» – treffen auf den Holocaust eindeutig nicht zu. 


Nachdem man die Juden in Deutschland nicht nur gezielt gedemütigt und misshandelt und nicht zuletzt enteignet hatte, ergriffen die meisten ja «von sich aus» (schon klar) die Flucht, emigrierten. Was wollte man denn noch mehr? 


Und was die «kathartische» Funktion wie in früheren Pogromen angeht: Die eigentliche Vernichtung der Juden in den Gaskammern der Konzentrationslager vollzog sich auch in dem Sinn «im industriellen Stil», dass sie hinter geschlossenen (Tötungs-)Fabrik-Toren stattfand, also gerade nicht, wie in früheren Zeiten bei öffentliche Hinrichtungen, vor aller Augen – sondern so, dass meine Großeltern hinterher gewissermaßen glaubhaft beteuern konnten (ich höre den wimmernd selbstmitleidigen Ton noch heute): «Wir haben doch nichts davon gewusst!»


Das sowjetische Gulag-System war pervers-rational: Man schuf Arbeitssklaven für die nationalen Großbauprojekte und erzeugte damit gleichzeitig den nötigen Terror in der Bevölkerung, um jede Kritik im Keim zu ersticken. Das System der NS-Vernichtungslager war dagegen pervers-irrational.


Und dennoch tue ich mich schwer mit dem Begriff des «Singulären», nicht nur weil seine deutsche Übersetzung, das unangemessen positiv konnotierte «einzigartig», doch immer mitschwingt. Sondern auch, weil der Begriff angreifbar ist oder angreifbar macht. Ich will mich nicht auf die Diskussion einlassen, ob der Holocaust «einzigartig» ist, vor allem wenn daran die Überlegung geknüpft ist, ob der Staat Israel eine Existenzberechtigung habe oder nicht. Der Gedanke des Zionismus ist älter als der Holocaust, und er ist groß und erhebend, weil utopisch, wenn nicht revolutionär. Der Gedanke des Holocausts ist nur niederschmetternd. Auf den Gedanken des Zionismus muss sich die Diskussion (wenn man sie denn führen will) beziehen. 


Theodor Herzl hat sein theoretisches Werk Der Judenstaat 1896 veröffentlicht und seinen utopischen Roman Altneuland 1902. Niemals hätte er für möglich oder auch nur denkbar halten können, was den Juden in Deutschland und ganz Europa dreißig Jahre später widerfahren sollte. Für ihn war das Maß bereits 1894 mit der Dreyfus-Affäre voll. In dem mit Gewinn und Genuss zu lesenden Roman unterrichtet ein Zionist der ersten Stunde, der aus Wien stammende David Littwak, zwei Besucher (die die letzten zwanzig Jahre von der Welt abgeschieden gelebt haben) davon, dass die Rückkehr der Juden nach Palästina stattgefunden habe. 


«Sind Sie aus Europa ausgetrieben worden?», fragt einer der Besucher ungläubig. David erklärt: «Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen. Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten unleidlich gemacht ... Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten Mitteln tätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, dass die Juden die Presse – wie einst im Mittelalter den Brunnen – vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehasst, als Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wenn sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehasst, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, dass sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mussten. Das letztere ist geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.»


Dies also als Nachtrag zu Vorhergehendem. Ich hatte schon überlegt, den ganzen Gulag-Artikel zu löschen, habe dann aber anders entschieden. Es war mir zu dem Zeitpunkt wichtig, ihn zu schreiben, und auch er enthält eine Wahrheit. Außerdem ist dies ja nicht der Blog der unumstößlichen Gewissheiten, sondern. 

Donnerstag, 25. August 2022

Fernsehabend

Mal sehen. Es ist noch ganz unausgegoren, oder nicht unausgegoren, aber ich suche noch nach Worten. Es geht um das Unwohlsein, das mich befällt, wenn vom Holocaust die Rede ist und einmal mehr die Anerkennung seiner Einzigartigkeit oder Singularität gefordert wird. Natürlich empfinde ich so lebhaft, wie das für einen Außenstehenden und Nachgeborenen nur möglich ist, wie unvergleichlich, oder, um auch hier (aus Gründen) ein Fremdwort zu wählen, inkommensurabel das Geschehene ist. Aber ich weiß doch gleichzeitig, dass nichts in der Geschichte (wie in der Natur) ohne Vorläufer, ohne Vergleichbares, ohne Seinesgleichen ist, dass nichts ohne Ursache, dass also nichts singulär ist. Schon lange habe ich das sehr ungute Gefühl, dass das (bestimmt sehr oft aufrichtige) Bedürfnis (auf Seiten der Täternachfahren) nach Buße einen verzweifelten (und verderblichen) Mystifizierungs- bzw. Dämonisierungsversuch unternimmt, der vielleicht sogar eine Art perverse Ersatzbefriedigung ist: Wenn der Tod schon ein Meister aus Deutschland ist, dann soll er aber bitteschön auch Weltmeister sein.


Gestern habe ich einen dreiteiligen Dokumentarfilm über das Gulagsystem der UdSSR gesehen. Es ist erschütternd und zum Verzweifeln. Tatsächlich weiß ich jetzt weniger denn je, wie man die eine unfassbare Bestialität nicht vergleichen sollte mit der anderen und wie man nicht die großen Gemeinsamkeiten sehen kann. Hier wie dort haben wir es mit einer Art absolutem Nullpunkt dessen zu tun, was Menschen zu ersinnen in der Lage sind und was wir unter positiven Vorzeichen „Kultur“ zu nennen gewohnt sind. Das Gulagsystem hat es wie das KZ-System und über einen unvergleichlich längeren Zeitraum (1917–1953) unternommen, mehreren Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung die Hölle auf Erde zu bereiten, systematisch und nach rein wirtschaftlichen Kriterien. Wie soll man nicht die Gemeinsamkeiten sehen zu anderen historischen Perioden und Gesellschaften, in denen ebenfalls systematisch Menschen vernichtet wurden, nicht weil sie gefürchtete Feinde waren, sondern aus besagtem reinem Nutzendenken. Auch das entsetzliche Sündenbock-Prinzip kam in der UdSSR voll zur Anwendung: Statt „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es, die leitenden Ingenieure haben sich mit den feindlichen westlichen Mächten verschworen, um den Fortschritt der UdSSR zu sabotieren. 


Und wie soll man dies nicht mit der Versklavung der Bevölkerung Schwarzafrikas vergleichen, ohne die der wirtschaftliche Aufstieg der Kolonialmächte undenkbar gewesen wäre? Wie die Entmenschlichung der Männer, Frauen und Kinder dunkler Hautfarbe nicht mit der der Juden oder der der angeblichen Staatsfeinde der UdSSR vergleichen – bzw. der der Frauen im Mittelalter, die jederzeit als Hexen denunziert und aufgrund einer Wahnidee (etwas zu sein, was es nicht gibt: Hexen) zum Tode verurteilt werden konnten. Die Entmenschlichung und systematische Vernichtung ist das große gemeinsame Merkmal, und auf beides versteht sich der Mensch ganz offenbar nicht erst seit den Nazis. 


Und es sollte doch klar sein, dass hier nichts gegeneinander verrechnet werden kann, dass die Tatsache, dass sich hier Muster gleichen und wiederholen, dass dies nichts relativiert. Mir ist die gegenwärtige Postkolonialismusdebatte von Herzen unangenehm, in der genau dies anscheinend versucht wird, zu sagen, dass der Holocaust zwar schlimm, aber so schlimm auch wieder nicht war, weil es ja Vorläufer gab. Andersrum: Die unerträgliche (aber nicht singuläre) Tatsache des Holocausts muss uns ebenso wie die unerträgliche Tatsache des Gulagsystems und jeder Form der systematische Erniedrigung der Menschen durch Menschen zur Solidarität mit den Opfern und ihren Nachkommen führen und zum gemeinsamen Kampf gegen jede Form von Totalitarismus und kollektivem Wahn.


https://www.arte.tv/de/videos/RC-018530/gulag/


Aus ungutem Anlass

Vorspann zu Nachfolgendem

Heute, am 21. August, wäre Stéphane Charbonnier, genannt Charb, ehemaliger Chefredakteur der französischen Satirezeitung «Charlie Hebdo», 55 Jahre alt geworden, wenn er nicht am 7. Januar 2015 von (ich wiederhole mich) instrumentalisierten Losern erschossen worden wäre. 


Den größten Fehler, den man angesichts solcher Attentate begehen kann, ist leider ein sehr naheliegender: Nur allzu leicht stellt sich das Gefühl ein, es gebe da auf der einen Seite ein aufgeklärtes «Abendland» (in dem ganz selbstverständlich gilt, dass Religion kritisiert werden darf, ja muss) und auf der anderen einen unaufgeklärten «Orient», dessen Bewohner, sobald ein Fall von Verunglimpfung des Islam im gottlosen Westen ruchbar wird, in Weißglut geraten und Rache schwören und nehmen. Ein bisschen Nachdenken muss zur notwendigen Einsicht führen, dass das aufgeklärte Abendland natürlich ebenso wenig ein monolitischer Block gestandener Menschenrechtler ist wie die arabische oder die islamische Welt ein monolitischer Block des voraufklärerischen «primitiven Denkens». Natürlich schleppt auch das sogenannten Abendland noch immer sein Mittelalter mit sich herum, in Gestalt der Orbans, Le Pens, Berlusconis, Höckes, Trumps etc., wie andererseits in der arabischen, islamischen Welt genauso kritisch und aufgeklärt gedacht und kritisiert und für Menschenrechte gekämpft wird wie anderswo auf der Welt. Was nicht zuletzt der neuerliche Fall des Attentats auf Salman Rushdie zeigt: Der Mann ist gebürtiger Muslim – also Rushdie jetzt. Nicht vergessen. Noch immer gilt, dass die meisten Opfer islamisch – ich würde nicht sagen: «motivierter» (die «Motivation» ist ganz woanders zu suchen), sondern – «legitimierter» Gewalt Muslime sind. (Den ersten Jahrestag des Machantritts der grässlichen Taliban in Afghanistan wurde nur von den Taliban gefeiert, nicht von der restlichen muslimischen Bevölkerung des Landes.)


Aber über all das wollte ich gar nicht reden, sondern nur erwähnen, dass ich aus Anlass des Jahrestages in Charbs «Gesammelten Fatwas» geblättert habe (die, wenn ich das richtig sehe, nicht auf Deutsch erschienen sind) und mir zum Vergnügen die letzte daraus übersetzt habe.
Achtung: Menschen, die Angst vorm Sterben haben, Leute, die als Kinder zu cholerischen Anfällen neigten, sowie bei der Post angestellte Personen könnten sich in ihren Gefühlen verletzt fühlen (18+).

Sonntag, 24. Juli 2022

Tod den Nervensägen, die Angst vorm Tod haben!

Von Charb


Ich habe Angst vor dem Tod, ich will nicht sterben, bibber-bibber … Ja, geht’s noch ein bisschen selbstgefälliger? Warum bitte schön solltest du nicht sterben wie alle Menschen? Was ist denn so besonders an deinem Leben, dass du dich daran klammerst wie eine Filzlaus? Du hast nur das eine Leben? Klar, das ist allgemein bekannt. Warum solltest du mehrere haben? Um den gleichen Schwachsinn zu erleben, den du schon einmal erlebt hast, und um an Ende wieder zu heulen anzufangen, dass du nicht sterben willst? Schlechter Verlierer! Beim Dosenwerfen müssen immer alle Dosen auf dem Boden landen und wenn nicht, kriegt das Kindchen einen Koller. Man muss älter werden, mein Bester, und am Ende, ja, sterben. Dass du Angst vor dem Moment hast, der dem Sterben vorausgeht, ist verständlich, da gibt es böse Agonien, mit denen ist nicht zu spaßen, aber heutzutage genügt ein kleiner Piks und du bekommst von all dem nichts mehr mit. Ich meine, du erinnerst dich doch noch an das unschöne Gefühl im Magen vor den Abiturprüfungen, oder? Nun also, der Tod sollte dir nicht mehr Angst machen als damals das Abitur. Und die  Angst beim Abi rührte daher, dass man durchfallen konnte. Beim Tod besteht in dieser Hinsicht keinerlei Gefahr, die Sterbeurkunde ist uns sicher. Ist es der Schritt ins Unbekannte, der dir Muffensausen bereitet? Nun, das Nichts ist nicht das «Unbekannte», sondern das Nichts. Das Nichts ist … wie soll ich es dir erklären? Denk an deinen Job bei der Post! Okay? Na also, das Nichts ist genau so, nur weniger nervig. Und was dein Leben angeht – vergiss nicht, dass du es gratis bekommen hast. Wenn du auf der Straße einen 100-Euro-Schein findest, hebst du ihn auf und hältst schön den Mund. Wenn du ihn in die Tasche steckst, überlegst du bereits, was du dir davon kaufst, richtig? Du weißt sehr gut, dass die 100 Euro nicht ewig halten werden, und du akzeptierst es. Dein Leben ist dieser 100-Euro-Schein. Sagen wir 500 Euro, um dir eine Freude zu machen. Und in Sachen Leben hast du dir nicht mal die Mühe machen müssen, dich zu bücken, um es aufzuheben. Fauler Hund!

Ich denke, Sie sind mit mir einer Meinung, die Nervensägen, die Angst vor dem Tod haben, verdienen es, in den Suizid getrieben zu werden, und der Film ihres Lebens, der vor ihrem inneren Auge abläuft, zeige nur Szenen, in denen sie Geschirr spülen! Amen.

(Aus dem Französischen von H. A.)

Charb (Stéphane Charbonnier, 1967–2015):  Les Fatwas de Charb (
Petit Traité d’intollerance, tome 1), Éditions Les Échappes: 2009.