Donnerstag, 25. August 2022

Fernsehabend

Mal sehen. Es ist noch ganz unausgegoren, oder nicht unausgegoren, aber ich suche noch nach Worten. Es geht um das Unwohlsein, das mich befällt, wenn vom Holocaust die Rede ist und einmal mehr die Anerkennung seiner Einzigartigkeit oder Singularität gefordert wird. Natürlich empfinde ich so lebhaft, wie das für einen Außenstehenden und Nachgeborenen nur möglich ist, wie unvergleichlich, oder, um auch hier (aus Gründen) ein Fremdwort zu wählen, inkommensurabel das Geschehene ist. Aber ich weiß doch gleichzeitig, dass nichts in der Geschichte (wie in der Natur) ohne Vorläufer, ohne Vergleichbares, ohne Seinesgleichen ist, dass nichts ohne Ursache, dass also nichts singulär ist. Schon lange habe ich das sehr ungute Gefühl, dass das (bestimmt sehr oft aufrichtige) Bedürfnis (auf Seiten der Täternachfahren) nach Buße einen verzweifelten (und verderblichen) Mystifizierungs- bzw. Dämonisierungsversuch unternimmt, der vielleicht sogar eine Art perverse Ersatzbefriedigung ist: Wenn der Tod schon ein Meister aus Deutschland ist, dann soll er aber bitteschön auch Weltmeister sein.


Gestern habe ich einen dreiteiligen Dokumentarfilm über das Gulagsystem der UdSSR gesehen. Es ist erschütternd und zum Verzweifeln. Tatsächlich weiß ich jetzt weniger denn je, wie man die eine unfassbare Bestialität nicht vergleichen sollte mit der anderen und wie man nicht die großen Gemeinsamkeiten sehen kann. Hier wie dort haben wir es mit einer Art absolutem Nullpunkt dessen zu tun, was Menschen zu ersinnen in der Lage sind und was wir unter positiven Vorzeichen „Kultur“ zu nennen gewohnt sind. Das Gulagsystem hat es wie das KZ-System und über einen unvergleichlich längeren Zeitraum (1917–1953) unternommen, mehreren Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung die Hölle auf Erde zu bereiten, systematisch und nach rein wirtschaftlichen Kriterien. Wie soll man nicht die Gemeinsamkeiten sehen zu anderen historischen Perioden und Gesellschaften, in denen ebenfalls systematisch Menschen vernichtet wurden, nicht weil sie gefürchtete Feinde waren, sondern aus besagtem reinem Nutzendenken. Auch das entsetzliche Sündenbock-Prinzip kam in der UdSSR voll zur Anwendung: Statt „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es, die leitenden Ingenieure haben sich mit den feindlichen westlichen Mächten verschworen, um den Fortschritt der UdSSR zu sabotieren. 


Und wie soll man dies nicht mit der Versklavung der Bevölkerung Schwarzafrikas vergleichen, ohne die der wirtschaftliche Aufstieg der Kolonialmächte undenkbar gewesen wäre? Wie die Entmenschlichung der Männer, Frauen und Kinder dunkler Hautfarbe nicht mit der der Juden oder der der angeblichen Staatsfeinde der UdSSR vergleichen – bzw. der der Frauen im Mittelalter, die jederzeit als Hexen denunziert und aufgrund einer Wahnidee (etwas zu sein, was es nicht gibt: Hexen) zum Tode verurteilt werden konnten. Die Entmenschlichung und systematische Vernichtung ist das große gemeinsame Merkmal, und auf beides versteht sich der Mensch ganz offenbar nicht erst seit den Nazis. 


Und es sollte doch klar sein, dass hier nichts gegeneinander verrechnet werden kann, dass die Tatsache, dass sich hier Muster gleichen und wiederholen, dass dies nichts relativiert. Mir ist die gegenwärtige Postkolonialismusdebatte von Herzen unangenehm, in der genau dies anscheinend versucht wird, zu sagen, dass der Holocaust zwar schlimm, aber so schlimm auch wieder nicht war, weil es ja Vorläufer gab. Andersrum: Die unerträgliche (aber nicht singuläre) Tatsache des Holocausts muss uns ebenso wie die unerträgliche Tatsache des Gulagsystems und jeder Form der systematische Erniedrigung der Menschen durch Menschen zur Solidarität mit den Opfern und ihren Nachkommen führen und zum gemeinsamen Kampf gegen jede Form von Totalitarismus und kollektivem Wahn.


https://www.arte.tv/de/videos/RC-018530/gulag/


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