Mittwoch, 6. August 2025

Gauck und das Undenkbare

Bei Gelegenheit einer Recherche


Als es vor knapp zwei Jahren live im ZDF zu sehen und hören war, war es mir zu widerlich, dem nachzugehen. Jetzt bei Gelegenheit einer Beschäftigung mit dem Thema „Solidarität“ wollte ich es noch mal wissen: Was genau hatte Ex-Bundespräsident Joachim Gauck in der Sendung „Berlin live“ (am 17. 09. 23 war’s) da gesagt? 

Es ging ihm um eine „neue Entschlossenheit“ in Sachen Migration: „Wenn wir nicht steuern und begrenzen“, so Gauck, „driftet die Wahlbevölkerung weiter nach rechts außen.“ 

Und dann fallen die mir in Erinnerung gebliebenen denkwürdigen Worte: Wir, also die Deutschen, müssen, Zitat: „an einem Punkt, der uns als humanen Menschen unangenehm“ sei, „Handlungsfähigkeit an den Tag (...) legen“.

Als humaner Mensch soll ich also handeln wie ein inhumaner Mensch, denn nur so bleibe ich handlungsfähig. Das ist im Klartext eine Einübung in Mitleidlosigkeit, die sich vom AfD-Verdikt, man müsse an der Grenze gegebenenfalls auch auf Kinder schießen, nur graduell, nicht kategoriell unterscheidet. Einübung in Mitleidlosigkeit ist eine notwendige Vorstufe des Faschismus. Hier kommt sie von hochoffizieller Seite. 

Gauck hat noch andere Dinge in der Sendung gesagt: Die Politik müsse „Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen.“ Zunächst unsympathisch – aber das legt sich dann. Bzw. aller Anfang ist schwer: „Oftmals ist es Furcht von einer brutal klingenden Politik der Abschottung oder Eingrenzung“. 

Aber fürchte dich nicht, Deutschland, Fascho-Gauck ist bei dir! 

Man müsse sich „außerdem darauf einstellen, dass die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger vorerst schwinden“ könne. Keine Ahnung, welche „Solidarität“ er meint. Das Wort wird ihm so rausgerutscht sein (Altsprech).

ZDF-Moderator Theo Koll hat ja auch längst kapiert, welcher Geist da weht, und fragt prompt, ob man denn auch, Zitat: „bisher Undenkbares denken“ müsse. Gauck: „Ja, ich sehe es so.“

Man kann das Interview nicht mehr per Stream in Gänze sehen/hören, nur in Auszügen lesen auf der ZDF-Webseite und auf der t-online-Plattform (die den entsprechenden Artikel nicht überschreibt mit „Gauck dreht durch“, sondern „Gaucks deutliche Warnung“). Meine Anfrage beim ZDF-Programmservice, ob man das vollständige Interview irgendwie zur Verfügung gestellt bekommen könne, wurde abschlägig beschieden: „Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass eine Abgabe der gewünschten Produktion nicht möglich ist, da diese aus rechtlichen Gründen zwischenzeitlich gesperrt wurde.“ 

Vielleicht ist dem Ex-Bundespräsidenten zwischenzeitlich aufgegangen, dass seine Aufforderung zur Entdeckung von Spielräumen wirklich arg brutal klingt. Deutschland ist noch nicht so weit.

Wenn wir uns in ein paar Jahren fragen müssen, wann das eigentlich alles gekippt ist, vom Proto- ins Real-Faschistische, dann würde ich als Gedenktag nicht die prospektive Machtübernahme durch die AfD empfehlen, sondern den 17. September des Jahres 2023.


https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/gauck-migration-afd-zuwanderung-100.html


https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100244954/joachim-gauck-zu-deutscher-migrationspolitik-ein-kontrollverlust-.html


Donnerstag, 27. April 2023

Tauben im Gras

Bei Gelegenheit einer Pflicht-Lektüre

Anfang des Monats ging die Meldung durch die Medien von einer jungen Deutschlehrerin, die Wolfgang Koeppens Roman «Tauben im Gras» von 1951 gelesen hat, weil der ab 2024 Abi-Pflichtlektüre werden soll in Baden-Württemberg. Sie war dann geschockt, weil da ständig das Wort «Neger» vorkommt. Sie wird zitiert mit den Worten: «Das war der schlimmste Tag meines Lebens».

Meine erste Reaktion war: Wie naiv kann man sein bzw. darf man sein – als Deutschlehrerin (nicht zu wissen, was evtl. «historischer Kontext», «Rollenprosa» oder irgendwas in der Art ist). Meine zweite war: Wenn das der schlimmste Tag in ihrem Leben war, hat sie bislang wohl nichts Schlimmes erlebt. Ist doch gut. – Okay, das war unsachlich, aber Spott liegt hier nahe (und er wird dann natürlich auch von garantiert falscher Seite auf die Frau ausgeschüttet worden sein; ich habe das nicht verfolgt.)

Meine dritte Reaktion war: Könnte man doch mal Koeppen lesen. Man hat Germanistik studiert, glaubt sich in der Literaturgeschichte ganz gut auszukennen, hat aber noch nie Koeppen gelesen. Nicht gut. Immerhin stand ein Exemplar abrufbereit im «Müsste/könnte man auch mal lesen»-Regal.

Ich habe also gelesen. Erste 100 Seiten ziemlich flott durchgefetzt, zweite 100 Seiten schon bedeutend langsamer, letzte 100 Seiten nur mit größter, wütender Qual. Kurz gesagt: Ich fand es grottig, im Ganzen, im Detail.

Natürlich ist der Roman nicht rassistisch, wie die Lehrerin glaubt, sondern er ist dezidiert anti-rassistisch. Aber das nützte ihm nichts – weil er so grottenschlecht ist. Denn weil alles irgendwie nicht funktioniert – der «lyrisch»-raunende Tonfall, die flachen Figuren, die öden Dialoge, die behauptete «Handlung» (mit einem absurden Totschlag mittenmang), der lahme politisch-philosophische Überbau –, weil all das nicht (behaupte ich) funktioniert, funktioniert auch der intendierte Anti-Rassismus nicht, sondern die ewige Nennung der «Neger» und «Nigger» ist einfach nur penetrant wie alles in dem Roman – wie auch z. B. die Verwendung der ewigen «Nutten» – es sind alles nur Klischees, Abziehbilder von Abziehbildern, keine Figur ist glaubhaft, keine gewinnt Eigenständigkeit, Individualität – sondern all das kündet nur von der unguten Fixiertheit des Autors auf seine Sujets und Motive und Einfälle, letztlich also von seinem Unvermögen, sich über den Stoff zu erheben, oder wie man es ausdrücken will.

Weshalb sich mir die Frage stellt: Warum ist oder wird so was Abi-Pflichtlektüre? Wer bestimmt so was und wieso fällt denen (wenn es darum geht, einen repräsentativen Roman der 50er Jahre auszuwählen) nichts Besseres ein? Inzwischen müsste man doch wohl recht gelassen Vergleiche anstellen können. Z. B. mit einem Roman wie Uwe Johnsons «Ingrid Babendererde – Reifeprüfung 1953», den ich gerade lese, weil er im selben «Könnte man/müsste mal»-Regal stand und weil ich nach dem Koeppen-Muff dringend frische Luft brauchte. Und siehe da: Man denkt erst, is n büschen gespreizt, n büschen manieristisch, vielleicht unreif (geschrieben mit 23!) – aber nix da, das ist Literatur, so geht Literatur, so funktionieren Figuren, Räume, Landschaften, so werden wir mitgerissen!

Also ich jedenfalls.

(Mein alter Deutschlehrer, dem ich so manchen entscheidenden Lektüre-Hinweis verdanke und dem ich von meinem Koeppen-Desaster berichtete, reagierte belustigt und wollte mir in der Sache nicht widersprechen, merkte aber an, dass die spätere Erzählung «Jugend» das sei von Koeppen, «was atmet». Auch «Treibhaus» habe seine Meriten. Und als 15-, 16-Jähriger habe er die «Reiseberichte» sehr geschätzt. Okay. So viel ausgleichende Gerechtigkeit muss sein. Ich werde das aber vorerst nicht überprüfen. Jetzt zurück in die frühsommerliche Hitze der Johnson’schen Seelandschaft ...)

Sonntag, 12. Februar 2023

J. K. Rowling über Gender und Geschlecht

Eine Blog-Lektüre 

 

«So unterstützte Rowling 2019 eine Frau, die ihren Job verloren hatte, da sie sich transfeindlich geäußert hatte. 2020 machte sich die Autorin erneut auf Twitter über die Formulierung ‹Menschen, die menstruieren› lustig. Man solle doch einfach von Frauen sprechen, forderte sie.»

ZDF.de am 4. 2. 2023 bei Gelegenheit des Erscheinens des Computerspiels «Hogwart’s Legacy»

 

Mit ungläubiger Verwunderung nehme ich gerade wieder zur Kenntnis, dass in den allermeisten Zeitungen, die ich eigentlich für lesenswert halte, sowie im Öffentlich-Rechtlichen samt Bildungsauftrag die Autorin Joanne K. Rowling mit großer pawlow’scher Zuverlässigkeit als «transfeindlich» verbellt wird. Wissen diese Leute und TERF-ologe Böhmermann eigentlich, was sie da reden? Könnten sie wohl angeben, was genau sie mit «transfeindlich» meinen? Und sie selbst wären alle «transfreundlich»? Und wie äußert sich diese Freundlichkeit? Durch haltlose Verunglimpfungen einer Autorin, deren Texte zum Thema «Sex» und «Gender» sie ganz offensichtlich nie gelesen haben? Brav. So geht Journalismus. 

 

Ich will mich nicht als Experte aufspielen. Aber ich habe aus gegebenen Anlass Rowlings Blog-Text vom 10. Juni 2020 auf ihrer Website gelesen. Das könnten natürlich auch alle die Hexen- bzw. TERF-Jäger (m/w/d) tun. Aber vermutlich können die meisten dann doch nicht so gut Englisch (keine Schande), und dann liest man erst recht oberflächlich und pickt sich nur vermeintlich verräterische Rosinen heraus. Deswegen habe ich einige der entscheidenden Passagen ins Deutsche übertragen und moderiere einfach von Stelle zu Stelle.

 

Rowling beginnt mit dem Fall Maya Forstater, einer englischen Steuerexpertin, die 2019 ihre Arbeitsstelle verlor, weil sie vorgeblich «transphobe» Tweets veröffentlicht hatte. Sie hatte geschrieben: «Die gesetzliche Definition von ‹Frau› so weit auszudehnen, dass sie Männer einschließt, macht die Kategorie ‹Frau› bedeutungslos und wird Frauenrechte und den Schutz von Frauen und Mädchen untergraben.» Sowie: «Ich akzeptiere die Gender-Identität eines jeden, ich glaube nur nicht, dass Menschen ihr biologisches Geschlecht ändern können.» Sie klagte daraufhin und erhielt in zweiter Instanz recht in der Frage, ob es eine mit dem Gesetz konforme Ansicht sei, dass das Geschlecht biologisch determiniert ist.

 

Zu dieser Zeit, so Rowling, beschäftigte sie sich selbst bereits seit zwei Jahren mit dem Thema, weil sie an einer Krimi-Reihe arbeitete, deren Heldin eine junge Frau war, die sich auch mit dem Thema «Gender» auseinandersetzen sollte. – Hören wir, wie es weitergeht:

 

Während ich mich noch über das Thema schlau machte, tauchten in meiner Twitter-Timeline zunehmend Anschuldigungen und Drohungen auf. Ausgelöst worden waren sie durch ein «Like». Seit ich angefangen hatte, mich für Trans-Themen zu interessieren, hatte ich es mir angewöhnt, Screenshots zu machen von Kommentaren, die ich interessant fand. In einem Fall hatte ich geistesabwesend auf «Like» geklickt, statt ein Bildschirmfoto zu machen. Dieses eine «Like» war Beweis genug für meine falsche Gesinnung. Ein noch harmloser, aber nicht abreißender Strom von vorwurfsvollen Kommentaren setzte ein.

 

Einen Monat nach diesem unverzeihlichen «Like», setzte ich mich vollends in die Nesseln, als ich begann, Magdalen Berns bei Twitter zu folgen. Magdalen war eine unglaublich tapfere, junge Frau und Lesbe, die an einem aggressiven Hirntumor litt und im Sterben lag. Ich folgte ihr, weil ich zu ihr persönlichen Kontakt aufnehmen wollte, was mir schließlich auch gelang. Wie auch immer. Da Magdalen der festen Überzeugung war, dass das biologische Geschlecht «zählt» und weil sie der Ansicht war, dass man Lesben nicht «Heuchlerinnen» nennen sollte, nur wenn sie keine Dates mit Trans-Frauen mit Penissen haben wollten, war der Fall für die Trans-Aktivisten auf Twitter klar, und sofort gingen die Wogen der Social-Media-Empörung hoch. [...] Ich musste mir vorhalten lassen, ich würde buchstäblich Trans-Personen töten mit meinem Hass, ich wurde als Schlampe und Fotze beschimpft.

 

Rowling zieht sich für mehrere Monate von Twitter zurück, um der eigenen psychischen Gesundheit willen. Als sie sich wieder zurückmeldet, weil sie in der Zeit der Pandemie ein neues Kinderbuch vorab zur Gratis-Lektüre anbieten will, geht es sofort wieder los. Vor allem der Begriff TERF kommt jetzt zum Einsatz:

 

Falls Sie nicht wissen, was das heißt (warum sollten Sie auch?): TERF ist ein von Trans-Aktivisten gebildetes Akronym und steht für «Trans-Exclusionary Radical Feminist» [Trans-ausschließende radikale Feministin]. Immer mehr Frauen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten werden inzwischen TERFs genannt und die überwiegende Anzahl von ihnen war nie radikal feministisch. Die Palette der TERFs reicht von der Mutter eines schwulen Sohns, die Angst hat, dass ihr Sohn sich einer operativen Transition unterzieht, weil er dem schwulenfeindlichen Mobbing entgehen will, bis zu der bis dato gänzlich unfeministischen alten Dame, die verkündet, nicht mehr bei Marks & Spencer einzukaufen, weil man dort Männern, die sich selbst als Frauen definieren, gestatte, in die Frauenumkleiden zu gehen.

 

Rowling stellt sich und uns die Frage, warum sie das tut. Warum äußert sie sich öffentlich? Warum setzt sie nicht einfach ihre Recherchen fort und hält den Mund. Der Grund: Die Trans-Aktivitäten betreffen sehr konkret Rowlings Aktivitäten im charitativen Bereich. Sie hat eine Stiftung gegründet, die Menschen in prekären Verhältnissen in Schottland hilft, mit besonderer Berücksichtigung von Frauen und Kindern, unter anderem Frauen in Gefängnissen und Betroffene von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Sie hat eine weitere Stiftung ins Leben gerufen, die die Ursachen der Krankheit MS untersucht, die bei Männern und Frauen einen ganz unterschiedlichen Verlauf zu nehmen pflegt. Und da der aktuelle Trans-Aktivismus es darauf anlegt, die juristische Definition von Geschlecht aufzuweichen, wenn nicht aufzuheben und durch den Begriff «Gender» zu ersetzen, würde das direkten Einfluss auf viele Bereiche haben, in denen sich Rowling für Frauen und Kinder engagiert, und, so Rowling, nicht zum Vorteil dieser Frauen und Kinder. – Weiter Rowling:

 

Sorgen macht mir vor allem der rasante Anstieg der Zahlen von jungen Frauen, die sich einer operativen Transition unterziehen wollen und auch die zunehmende Anzahl derer, die eine De-Transition anstreben (also zu ihrem ursprünglichen Geschlecht zurückkehren wollen), weil sie den Schritt, den sie gegangen sind, bereut haben, der in einigen Fälle zu irreversiblen Schäden geführt hatte, wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit. Einige sagen, sie hätten sich für die Transition entschieden, nachdem sie realisiert hätten, dass sie homosexuell seien, und dass die Transition sich zum Teil der Angst vor Homofeindlichkeit verdanke, allgemein in der Gesellschaft oder in ihren Familien.»

 

Rowling weist auf die Tatsache hin, dass noch vor zehn Jahren, die meisten Menschen, die eine Geschlechtsumwandlung anstrebten, Männer waren. Die Verhältnisse habe sich inzwischen umgekehrt. Die Zahl der Mädchen, die sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen haben, ist im Vereinigten Königreich um über viertausend Prozent gestiegen. Autistische Mädchen seien dabei überproportional stark vertreten. 

 

Die US-amerikanische Ärztin und Forscherin Lisa Littman hatte dieses Phänomen 2018 in einer Studie als «Rapid Onset Gender Dysphoria» («plötzlich einsetzende Geschlechtsidentitätsstörung») bezeichnet. Die Studie wurde vor allem von Trans-Aktivisten kritisiert (um es freundlich auszudrücken), deren zentrale These war und wohl ist, dass die Gender-Identität eines Menschen angeboren sei wie die sexuelle Orientierung. Dass man durch gesellschaftlichen Druck zur Geschlechtsumwandlung gedrängt werden könne, war/ist aus Sicht der Trans-Aktivisten ganz undenkbar. Aber genau das glaubte Littman in den Beiträgen junger Menschen in den sozialen Medien und in persönlichen Gesprächen mit diesen und mit Eltern herausgefunden zu haben. Littman beschreibt in ihrer Studie, wie ganze Freundesgruppen sich plötzlich als Transgender indentifizierten. Davon wollten die Trans-Aktivisten allerdings nichts hören, die im Gegenteil die Auffassung vertraten, so Rowling, dass ein junger Mensch, dem man die Transition verweigere, mit Sicherheit Suizid begehe.

 

Rowling liest in der Folge viele Berichte junger Leute, die an Gender-Dysphorie leiden oder litten:

 

Je mehr von diesen Berichten ich lese, mit ihren detaillierten Beschreibungen von Angstzuständen, Dissoziationen, Essstörungen, von dem selbstverletzenden Verhalten, ihrem Selbsthass, je stärker drängt sich mir die Frage auf, ob ich, wenn ich dreißig Jahre später geboren worden wäre, nicht auch versucht hätte, mich einer Transition zu unterziehen. Die Verlockung dem Frausein entkommen zu können, wäre gewaltig gewesen. Als Teenager litt ich unter heftigen Zwangsstörungen. Hätte ich online eine Gruppe gefunden, Gleichgesinnte, die ich woanders nicht hätte finden können, ich glaube, man hätte mich leicht dazu bringen können, mich in Papas Sohn zu verwandeln, den er erklärtermaßen ohnehin lieber gehabt hätte.

 

Wenn ich Texte zum Thema Gender-Identität lese, muss ich immer daran denken, wie geschlechtslos ich als Jugendliche mental war. Die Schriftstellerin Colette hat von sich selbst als einem «mentalen Hermaphroditen» gesprochen, und ein Zitat von Simone de Beauvoir kommt mir in den Sinn: «Es ist nur natürlich, wenn die künftige Frau sich über die Beschränkungen entrüstet, die ihr Geschlecht ihr auferlegt. Die Frage, warum sie sie ablehnt, ist falsch gestellt. Das Problem besteht vielmehr darin zu verstehen, warum sie sie akzeptiert.» 

 

Da es damals in der 80ern ganz unrealistisch war, ein Mann zu werden, mussten also Bücher helfen und Musik, um zurande zu kommen mit meinen psychischen Problemen und vor allem mit dieser sexuell aufgeladenen Dauerkontrolle und Dauerkritik, die so viele Mädchen und junge Frauen einen Krieg gegen ihren Körper führen lässt. Ich habe zum Glück meine eigene Form des Anders-Seins gefunden, habe die Ambivalenz akzeptiert, die das Frau-Sein bedeutet, vermittelt durch die Texte von Schriftstellerinnen und durch Musik, die mir signalisierte, dass es – trotz der Zumutungen, die eine sexistische Welt dem weiblichen Körper auferlegt – okay ist, wenn man nicht «rosa» fühlt, wenn man sich nicht aufbrezeln will, sich in seinem Denken nicht anpassen will. Es ist okay, durcheinander und verwirrt zu sein, düster, sexuell und asexuell gleichzeitig, sich unsicher zu sein, wer man ist.

 

Um es ganz deutlich zu sagen: Ich weiß, dass eine Geschlechtsumwandlung für Personen, die an Gender-Dysphorie leiden, eine Lösung sein kann. Doch ich sehe gleichzeitig die Zahlen, die verschiedene, fundierte Studien ermittelt haben und die besagen, dass 60–90% der Teenager, die an Gender-Dysphorie leiden, diese ohne Transition überwinden. 

 

Man sagt mir: Triff dich mit Trans-Personen. 

 

Habe ich getan. Ich habe mich mit einigen jüngeren Leuten getroffen, die alle hinreißend waren. Vor allem aber habe ich eine sich selbst als transsexuell bezeichnende Frau kennengelernt. Sie ist älter als ich und einfach wunderbar. Obwohl sie offen von ihrer Vergangenheit als schwuler Mann berichtet, fällt es mir schwer, sie anders wahrzunehmen denn als Frau, und ich glaube (und ich hoffe es sehr), dass sie rundum glücklich damit ist, dass sie die Geschlechtsanpassung vorgenommen hat. Obwohl sie nicht mehr jung war, hat sie sich den notwendigen strengen Untersuchungen unterzogen, medizinischen Gutachten, Psychotherapie, dann die stufenweisen Eingriffe. 

 

Der gegenwärtige Trans-Aktivismus allerdings ist drauf und dran, alle erprobten Diagnoseinstanzen, die eine transitionswillige Person durchlaufen muss, abzuschaffen. Und ein Mann, der sich entschließt, keine Transition zu vollziehen und keine Hormone einzunehmen, kann sich einfach eine «Gender Recognition»-Urkunde ausstellen lassen und ist im Sinne des Gesetzes eine Frau. Vielen Leuten ist das nicht klar.

 

Die Zeit, in der wir leben, ist frauenfeindlich in einem Maße, wie ich es noch nicht erlebt habe. Damals in den 80ern hatte ich geglaubt, dass meine Töchter, wenn ich einmal welche haben sollte, es viel besser haben würden als ich. Aber ich glaube, seit dem antifeministischen Backlash und mit unserer heutigen pornografisierten Internet-Kultur ist für Mädchen alles nur noch schlimmer geworden. Frauen wurden noch nie derart erniedrigt und entmenschlicht wie heute. Das reicht vom «Führer der freien Welt», mit seinen bekannten sexuellen Übergriffen, seinem «grab them by the pussy»-Geprahle, über die «Incel»-Szene mit ihrem Hass auf alle Frauen, die ihnen nicht sexuell zu Willen sind, bis hin zu Trans-Fundamentalisten, die öffentlich verkünden, dass TERFs verprügelt und umerzogen werden müssen. Und Männer des gesamten politischen Spektrums scheinen einverstanden zu sein: Das sind Frauen, die Ärger suchen. Überall heißt es, setz dich hin und sei ruhig, und wehe, ich höre einen Mucks.

 

Ich habe all die Argumente gelesen von der Weiblichkeit im falschen Körper und dass biologische Frauen nun mal nicht die nötigen Erfahrungen hätten, und ich muss gestehen, ich finde auch dieses Gerede durch und durch frauenfeindlich und rückschrittlich. 

 

Ein weiteres Ziel der Verleugnung des biologischen Geschlechts scheint zu sein, die – für einige Personen offenbar unerträgliche – Tatsache zu unterminieren, dass Frauen ihre eigene biologische Realität haben, als wäre es ein beneidetes Privileg, das die Frauen darüber hinaus zu einer verschworenen politischen Klasse macht. 

 

Ich habe in den vergangenen Wochen Hunderte von E-Mails bekommen, die meine Befürchtungen teilen und mich bestätigen. Es reicht ganz offenbar nicht, dass Frauen sich mit Trans-Personen solidarisch erklären. Frauen sollen bekennen und akzeptieren, dass es keinerlei körperlichen Unterschied zwischen Trans-Frauen und ihnen selbst gibt.

 

Aber wie schon sehr viele Frauen vor mir gesagt haben: Frau-Sein ist kein Kostüm. Frau-Sein ist nicht die Idee im Kopf eines Mannes. Frau-Sein ist kein rosa Hirn, ist nicht auf «Jimmy Choos» stehen oder irgendeine andere sexistische Vorstellung, die gerade als progressiv gilt. 

 

Vor allem: Die «inklusive Sprache», die will, dass weibliche Personen «Menstruierende» genannt werden oder «Personen mit Vulva», empfinden viele Frauen als herabsetzend und entmenschlichend.

 

Ich verstehe, warum Trans-Aktivisten möchten, dass die Sprache neutral und freundlich ist, aber für diejenigen von uns, die verbal und körperlich brutal von Männern misshandelt wurden, ist die Sprache nicht neutral, sie ist ablehnend und entfremdend.

 

Soviel zum Stichwort «hassen». In der Folge weist die Autorin noch einmal auf einen heiklen Punkt hin: die eigene Gewalterfahrung in der ersten Ehe. Dass sie das tut, halte ich für besonders aufschlussreich und wichtig und zwar nicht nur im Sinne einer «street» (bzw. in diesem Fall «house») «credibility». Das auch. Ja, sie weiß, wovon sie spricht. Der Hinweis betrifft aber darüber hinaus auch allgemein unsere gegenwärtige Diskussions-Unkultur. Denn immer glauben wir, wir würden um bloße «Meinungen» streiten – oder auch um hehre «Ansichten». Doch jeder einzelne Mensch ist ein Bündel von Neurosen, von Ängsten vor allem, und natürlich von Wünschen und Sehnsüchten (die den Ängsten aber immer schon untergeordnet sind). Und während wir also für irgendeine objektiv richtige Sache zu streiten glauben, mit objektiven Argumenten, die doch kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank, anzweifeln kann, vergessen wir nur allzuleicht, dass es vor allem unsere Ängste, Wünsche und Sehnsüchte sind, die uns zu Anhängern bestimmter Weltbilder und vermeintlich objektiver Theorien werden lassen. Diese Einsicht diskreditiert in keiner Weise die Sache, für die wir streiten. Sie bewahrt uns aber davor, unseren Standpunkt für den einzig möglichen zu halten – und macht nebenbei begreiflich, warum es heute, in einer Zeit, in der wir armen Nervenbündel immer mehr vereinzeln, so schwer ist, Allianzen zu schmieden. (Geschlossen halten dummerweise gerade immer diejenigen die Reihen, die sich über jeden Zweifel erhaben glauben.)

 

Tut mir leid, der Exkurs war mir wichtig. Weiter bei Rowling. Es geht also um die Gewalterfahrung:

 

Wenn Sie in meinen Kopf sehen könnten und fühlen könnten, was ich fühle, wenn ich lese, dass eine Trans-Frau von den Händen eines Mannes misshandelt und getötet wurde, würden sie wissen, dass ich nichts als Mitgefühl und Solidarität empfinde. Ich kann das Grauen körperlich spüren, das diese Trans-Frauen in ihren letzten Sekunden auf Erden gespürt haben müssen, denn ich habe selbst Momente erlebt, wo mein Leben nur noch davon abhing, dass mein Angreifer sich im letzten Augenblick am ganzen Leib bebend zurückhielt.

 

Ich glaube, dass die meisten sich als Trans definierenden Personen nicht nur keinerlei Gefahr für andere darstellen, sondern dass sie vor allem selbst gefährdet sind, aus den genannten Gründen. Wie Frauen leben sie mit dem erhöhten Risiko, von ihren Partnern getötet zu werden. Trans-Frauen, die im Sex-Gewerbe arbeiten, vor allem Trans-Frauen of Colour sind noch einmal stärker gefährdet. Wie jede andere, die häusliche Gewalt und Vergewaltigung erlebt hat, fühle ich mit den Trans-Frauen, die von Männern misshandelt wurden.

 

Ich möchte deswegen, dass Trans-Frauen sicher sind. Gleichzeitig möchte ich aber, dass geborene Mädchen und Frauen nicht weniger sicher sind. Wenn man die Duschräume und die Umkleiden irgendeinem Mann öffnet, der glaubt oder fühlt, er sei eine Frau – und wie gesagt: die «Gender Confirmation»-Urkunde macht es möglich –, dann öffnet man diese Türen allen Männer, die durch diese Tür gehen wollen. Das ist die schlichte Wahrheit.

 

Die Autorin erwähnt ihre zweite Ehe, die ihr geholfen hat, über die Gewalterfahrung hinwegzukommen, eine Erfahrung, die sie aber gleichzeitig ihr Leben lang begleiten wird. Noch immer leidet Rowling zum Beispiel an extremer Schreckhaftigkeit. Dann erwähnt sie noch einmal die vermeintliche «Trans-Feindlichkeit»:

 

Keine Gender-kritische Frau, mit der ich gesprochen habe, hasst Trans-Personen. Im Gegenteil. Viele von ihnen haben sich für das Thema zu interessieren begonnen, weil sie sich Gedanken um jugendliche Trans-Personen gemacht haben, und sie sind voller Sympathie für die jungen Erwachsenen, die einfach nur ihr Leben leben wollen und die furchtbar verunsichert sind, durch einen Trans-Aktivismus, den sie nicht gutheißen können.

 

Zum Schluss kommt Rowling auf das Thema «Debatten-Kultur» zu sprechen und spielt auch noch einmal auf den mir wichtigen Aspekt an, dass wenn wir ernsthaft diskutieren wollen, wir uns auch in unseren Diskussionen als Individuen (okay, klingt besser als «Nervenbündel») wahrnehmen müssen und nicht, wie üblich, als bloße Vertreter eines erratischen Blocks der «Guten» (also ich und ein paar andere) und einem der «Bösen» beziehungsweise der Idioten:

 

Ich kann mich sehr glücklich schätzen. Ich bin eine Überlebende, wahrlich kein Opfer. Ich habe meine Vergangenheit nur erwähnt, weil ich, wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten auch, eine komplexe Geschichte hinter mir habe, die für meine Ängste, meine Vorlieben und meine Ansichten verantwortlich ist. Ich lasse diese innere Komplexität nie außer Acht, wenn ich einen fiktionalen Charakter erschaffe, und ich lasse sie auch nicht außer Acht, wenn ich mich zu Trans-Personen äußere.

 

Alles, worum ich bitte – was ich mir wünsche – ist, dass das gleiche Mitgefühl, das gleiche Verständnis auch den vielen Millionen Frauen entgegengebracht wird, deren einziges Verbrechen es ist, dass sie ihren Sorgen Gehör verschaffen wollen – dass man sie anhört, ohne dass sie bedroht oder erniedrigt werden.

 

 * * * 

 

Der englische Originaltext «J. K. Rowling Writes about Her Reasons for Speaking out on Sex and Gender Issues» findet sich in voller Länge auf ihrer Website «jkrowling.com»

(jkrowling.com/opinions/j-k-rowling-writes-about-her-reasons-for-speaking-out-on-sex-and-gender-issues/)

 

Wenn man zum Thema Debatten-Kultur unabhängig von Rowling weiterlesen will, empfehle ich ein Buch, das inzwischen in der 6. Auflage erschienen ist, was belegt, dass das Thema an Relevanz nichts eingebüßt hat seit seinem ersten Erscheinen 2017:


Patsy l’Amour laLove [Hg.]: Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Querverlag 2022.

(querverlag.de/beissreflexe/)

 

Den Wortlaut der Twitter-Kommentare von Maya Forstater habe ich hier gefunden: «Maya Forstater siegt vor Gericht!», Emma, 11. 6. 2021

(emma.de/artikel/maya-forstater-siegt-vor-gericht-338699)

 

Und beim Recherchieren bin ich auf diesen Artikel gestoßen, der mir auch gut zu passen scheint: «Ein Penis ist ein männliches Genital!», Schwulissimo, 3. 10. 2022; ein Interview mit dem geschäftsführenden Vorstand Frank Gommert der Vereinigung TransSexuelle-Menschen e.V.

(https://www.schwulissimo.de/neuigkeiten/trans-verein-kritisiert-aktivisten-queerer-aktivismus-schadet-menschen-mit)

 

Das Simone-de-Beauvoir-Zitat stammt aus der deutschen Ausgabe Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau (aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald), Rowohlt 2011.

 


Freitag, 30. Dezember 2022

Nachtrag zu Vorhergehendem

Auf Facebook, wo ich den Blog-Text vom 25. August («Fernsehabend», s. u.) veröffentlichte, gab es eine Handvoll «Daumen hoch»-Reaktionen und sichtliches Kopfnicken in Form zweier Kommentare. Ich habe bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass es mir um Zuspruch eigentlich nicht ging. Da mir also niemand widerspricht, muss ich es eben selbst tun. 


Denn natürlich weiß ich doch, was das Singuläre der systematischen Vernichtung der Juden in Europa durch die Deutschen ausmacht: die Vernichtung um ihrer selbst willen. Das kann man wohl zuweilen aus dem Blick verlieren, weil diese Tatsache so ganz und gar unfassbar ist.


Vernichtungswünsche existieren, möchte ich behaupten, in jedem Menschen. Unsere Wut richtet sich gegen Personen, die unserem geordneten Weltbild auf bedrohliche Weise in die Quere kommen. Im Alltag, aber besonders markant im großen Weltgeschehen. Trump, Bolsonaro, Le Pen – jeder hat da seine eigenen Hassgestalten. Man (ich) möchte Ihnen das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht schlagen und sie auf diesem Wege gleich ein für allemal zum Schweigen bringen. Sie sollen einfach weg sein! Wenn die nicht wären, wäre alles gut. 

Das ist «primitives Denken». Natürlich wäre nichts gut. Wir personalisieren nun mal gern. 

Man kann diesen Hass natürlich anheizen. Man kennt Lynch-Mobs. Der schwarze Junge, der ein weißes Mädchen angelächelt hat und an der Straßenlaterne endet. Man kennt Pogrome, denen die Juden in allen Jahrhunderten überall auf der Welt ausgesetzt waren. In beiden Fällen entlädt sich der sogenannte «Volkszorn». Was dabei in den Menschen (den Tätern) vor sich geht, kann man soziologisch und psychologisch analysieren. Der Philosoph René Girard hat den «Sündenbockmechanismus» beschrieben, der laut Girard kulturtragende Funktion hat. Menschen brauchen Sündenböcke, um die Gewalt zu kanalisieren, die latent in jeder Gesellschaft wirkt. Kennzeichen des Sündenbocks ist es, dass er mehr oder weniger austauschbar ist (und damit nachweislich unschuldig).


Beide Aspekte – der Wunsch, das Hassobjekt möge einfach «weg» sein bzw. die kathartische Opferung eines symbolischen «Schuldigen» – treffen auf den Holocaust eindeutig nicht zu. 


Nachdem man die Juden in Deutschland nicht nur gezielt gedemütigt und misshandelt und nicht zuletzt enteignet hatte, ergriffen die meisten ja «von sich aus» (schon klar) die Flucht, emigrierten. Was wollte man denn noch mehr? 


Und was die «kathartische» Funktion wie in früheren Pogromen angeht: Die eigentliche Vernichtung der Juden in den Gaskammern der Konzentrationslager vollzog sich auch in dem Sinn «im industriellen Stil», dass sie hinter geschlossenen (Tötungs-)Fabrik-Toren stattfand, also gerade nicht, wie in früheren Zeiten bei öffentliche Hinrichtungen, vor aller Augen – sondern so, dass meine Großeltern hinterher gewissermaßen glaubhaft beteuern konnten (ich höre den wimmernd selbstmitleidigen Ton noch heute): «Wir haben doch nichts davon gewusst!»


Das sowjetische Gulag-System war pervers-rational: Man schuf Arbeitssklaven für die nationalen Großbauprojekte und erzeugte damit gleichzeitig den nötigen Terror in der Bevölkerung, um jede Kritik im Keim zu ersticken. Das System der NS-Vernichtungslager war dagegen pervers-irrational.


Und dennoch tue ich mich schwer mit dem Begriff des «Singulären», nicht nur weil seine deutsche Übersetzung, das unangemessen positiv konnotierte «einzigartig», doch immer mitschwingt. Sondern auch, weil der Begriff angreifbar ist oder angreifbar macht. Ich will mich nicht auf die Diskussion einlassen, ob der Holocaust «einzigartig» ist, vor allem wenn daran die Überlegung geknüpft ist, ob der Staat Israel eine Existenzberechtigung habe oder nicht. Der Gedanke des Zionismus ist älter als der Holocaust, und er ist groß und erhebend, weil utopisch, wenn nicht revolutionär. Der Gedanke des Holocausts ist nur niederschmetternd. Auf den Gedanken des Zionismus muss sich die Diskussion (wenn man sie denn führen will) beziehen. 


Theodor Herzl hat sein theoretisches Werk Der Judenstaat 1896 veröffentlicht und seinen utopischen Roman Altneuland 1902. Niemals hätte er für möglich oder auch nur denkbar halten können, was den Juden in Deutschland und ganz Europa dreißig Jahre später widerfahren sollte. Für ihn war das Maß bereits 1894 mit der Dreyfus-Affäre voll. In dem mit Gewinn und Genuss zu lesenden Roman unterrichtet ein Zionist der ersten Stunde, der aus Wien stammende David Littwak, zwei Besucher (die die letzten zwanzig Jahre von der Welt abgeschieden gelebt haben) davon, dass die Rückkehr der Juden nach Palästina stattgefunden habe. 


«Sind Sie aus Europa ausgetrieben worden?», fragt einer der Besucher ungläubig. David erklärt: «Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen. Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten unleidlich gemacht ... Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten Mitteln tätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, dass die Juden die Presse – wie einst im Mittelalter den Brunnen – vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehasst, als Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wenn sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehasst, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umständen war es klar, dass sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mussten. Das letztere ist geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.»


Dies also als Nachtrag zu Vorhergehendem. Ich hatte schon überlegt, den ganzen Gulag-Artikel zu löschen, habe dann aber anders entschieden. Es war mir zu dem Zeitpunkt wichtig, ihn zu schreiben, und auch er enthält eine Wahrheit. Außerdem ist dies ja nicht der Blog der unumstößlichen Gewissheiten, sondern. 

Donnerstag, 25. August 2022

Fernsehabend

Mal sehen. Es ist noch ganz unausgegoren, oder nicht unausgegoren, aber ich suche noch nach Worten. Es geht um das Unwohlsein, das mich befällt, wenn vom Holocaust die Rede ist und einmal mehr die Anerkennung seiner Einzigartigkeit oder Singularität gefordert wird. Natürlich empfinde ich so lebhaft, wie das für einen Außenstehenden und Nachgeborenen nur möglich ist, wie unvergleichlich, oder, um auch hier (aus Gründen) ein Fremdwort zu wählen, inkommensurabel das Geschehene ist. Aber ich weiß doch gleichzeitig, dass nichts in der Geschichte (wie in der Natur) ohne Vorläufer, ohne Vergleichbares, ohne Seinesgleichen ist, dass nichts ohne Ursache, dass also nichts singulär ist. Schon lange habe ich das sehr ungute Gefühl, dass das (bestimmt sehr oft aufrichtige) Bedürfnis (auf Seiten der Täternachfahren) nach Buße einen verzweifelten (und verderblichen) Mystifizierungs- bzw. Dämonisierungsversuch unternimmt, der vielleicht sogar eine Art perverse Ersatzbefriedigung ist: Wenn der Tod schon ein Meister aus Deutschland ist, dann soll er aber bitteschön auch Weltmeister sein.


Gestern habe ich einen dreiteiligen Dokumentarfilm über das Gulagsystem der UdSSR gesehen. Es ist erschütternd und zum Verzweifeln. Tatsächlich weiß ich jetzt weniger denn je, wie man die eine unfassbare Bestialität nicht vergleichen sollte mit der anderen und wie man nicht die großen Gemeinsamkeiten sehen kann. Hier wie dort haben wir es mit einer Art absolutem Nullpunkt dessen zu tun, was Menschen zu ersinnen in der Lage sind und was wir unter positiven Vorzeichen „Kultur“ zu nennen gewohnt sind. Das Gulagsystem hat es wie das KZ-System und über einen unvergleichlich längeren Zeitraum (1917–1953) unternommen, mehreren Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung die Hölle auf Erde zu bereiten, systematisch und nach rein wirtschaftlichen Kriterien. Wie soll man nicht die Gemeinsamkeiten sehen zu anderen historischen Perioden und Gesellschaften, in denen ebenfalls systematisch Menschen vernichtet wurden, nicht weil sie gefürchtete Feinde waren, sondern aus besagtem reinem Nutzendenken. Auch das entsetzliche Sündenbock-Prinzip kam in der UdSSR voll zur Anwendung: Statt „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es, die leitenden Ingenieure haben sich mit den feindlichen westlichen Mächten verschworen, um den Fortschritt der UdSSR zu sabotieren. 


Und wie soll man dies nicht mit der Versklavung der Bevölkerung Schwarzafrikas vergleichen, ohne die der wirtschaftliche Aufstieg der Kolonialmächte undenkbar gewesen wäre? Wie die Entmenschlichung der Männer, Frauen und Kinder dunkler Hautfarbe nicht mit der der Juden oder der der angeblichen Staatsfeinde der UdSSR vergleichen – bzw. der der Frauen im Mittelalter, die jederzeit als Hexen denunziert und aufgrund einer Wahnidee (etwas zu sein, was es nicht gibt: Hexen) zum Tode verurteilt werden konnten. Die Entmenschlichung und systematische Vernichtung ist das große gemeinsame Merkmal, und auf beides versteht sich der Mensch ganz offenbar nicht erst seit den Nazis. 


Und es sollte doch klar sein, dass hier nichts gegeneinander verrechnet werden kann, dass die Tatsache, dass sich hier Muster gleichen und wiederholen, dass dies nichts relativiert. Mir ist die gegenwärtige Postkolonialismusdebatte von Herzen unangenehm, in der genau dies anscheinend versucht wird, zu sagen, dass der Holocaust zwar schlimm, aber so schlimm auch wieder nicht war, weil es ja Vorläufer gab. Andersrum: Die unerträgliche (aber nicht singuläre) Tatsache des Holocausts muss uns ebenso wie die unerträgliche Tatsache des Gulagsystems und jeder Form der systematische Erniedrigung der Menschen durch Menschen zur Solidarität mit den Opfern und ihren Nachkommen führen und zum gemeinsamen Kampf gegen jede Form von Totalitarismus und kollektivem Wahn.


https://www.arte.tv/de/videos/RC-018530/gulag/


Aus ungutem Anlass

Vorspann zu Nachfolgendem

Heute, am 21. August, wäre Stéphane Charbonnier, genannt Charb, ehemaliger Chefredakteur der französischen Satirezeitung «Charlie Hebdo», 55 Jahre alt geworden, wenn er nicht am 7. Januar 2015 von (ich wiederhole mich) instrumentalisierten Losern erschossen worden wäre. 


Den größten Fehler, den man angesichts solcher Attentate begehen kann, ist leider ein sehr naheliegender: Nur allzu leicht stellt sich das Gefühl ein, es gebe da auf der einen Seite ein aufgeklärtes «Abendland» (in dem ganz selbstverständlich gilt, dass Religion kritisiert werden darf, ja muss) und auf der anderen einen unaufgeklärten «Orient», dessen Bewohner, sobald ein Fall von Verunglimpfung des Islam im gottlosen Westen ruchbar wird, in Weißglut geraten und Rache schwören und nehmen. Ein bisschen Nachdenken muss zur notwendigen Einsicht führen, dass das aufgeklärte Abendland natürlich ebenso wenig ein monolitischer Block gestandener Menschenrechtler ist wie die arabische oder die islamische Welt ein monolitischer Block des voraufklärerischen «primitiven Denkens». Natürlich schleppt auch das sogenannten Abendland noch immer sein Mittelalter mit sich herum, in Gestalt der Orbans, Le Pens, Berlusconis, Höckes, Trumps etc., wie andererseits in der arabischen, islamischen Welt genauso kritisch und aufgeklärt gedacht und kritisiert und für Menschenrechte gekämpft wird wie anderswo auf der Welt. Was nicht zuletzt der neuerliche Fall des Attentats auf Salman Rushdie zeigt: Der Mann ist gebürtiger Muslim – also Rushdie jetzt. Nicht vergessen. Noch immer gilt, dass die meisten Opfer islamisch – ich würde nicht sagen: «motivierter» (die «Motivation» ist ganz woanders zu suchen), sondern – «legitimierter» Gewalt Muslime sind. (Den ersten Jahrestag des Machantritts der grässlichen Taliban in Afghanistan wurde nur von den Taliban gefeiert, nicht von der restlichen muslimischen Bevölkerung des Landes.)


Aber über all das wollte ich gar nicht reden, sondern nur erwähnen, dass ich aus Anlass des Jahrestages in Charbs «Gesammelten Fatwas» geblättert habe (die, wenn ich das richtig sehe, nicht auf Deutsch erschienen sind) und mir zum Vergnügen die letzte daraus übersetzt habe.
Achtung: Menschen, die Angst vorm Sterben haben, Leute, die als Kinder zu cholerischen Anfällen neigten, sowie bei der Post angestellte Personen könnten sich in ihren Gefühlen verletzt fühlen (18+).

Sonntag, 24. Juli 2022

Tod den Nervensägen, die Angst vorm Tod haben!

Von Charb


Ich habe Angst vor dem Tod, ich will nicht sterben, bibber-bibber … Ja, geht’s noch ein bisschen selbstgefälliger? Warum bitte schön solltest du nicht sterben wie alle Menschen? Was ist denn so besonders an deinem Leben, dass du dich daran klammerst wie eine Filzlaus? Du hast nur das eine Leben? Klar, das ist allgemein bekannt. Warum solltest du mehrere haben? Um den gleichen Schwachsinn zu erleben, den du schon einmal erlebt hast, und um an Ende wieder zu heulen anzufangen, dass du nicht sterben willst? Schlechter Verlierer! Beim Dosenwerfen müssen immer alle Dosen auf dem Boden landen und wenn nicht, kriegt das Kindchen einen Koller. Man muss älter werden, mein Bester, und am Ende, ja, sterben. Dass du Angst vor dem Moment hast, der dem Sterben vorausgeht, ist verständlich, da gibt es böse Agonien, mit denen ist nicht zu spaßen, aber heutzutage genügt ein kleiner Piks und du bekommst von all dem nichts mehr mit. Ich meine, du erinnerst dich doch noch an das unschöne Gefühl im Magen vor den Abiturprüfungen, oder? Nun also, der Tod sollte dir nicht mehr Angst machen als damals das Abitur. Und die  Angst beim Abi rührte daher, dass man durchfallen konnte. Beim Tod besteht in dieser Hinsicht keinerlei Gefahr, die Sterbeurkunde ist uns sicher. Ist es der Schritt ins Unbekannte, der dir Muffensausen bereitet? Nun, das Nichts ist nicht das «Unbekannte», sondern das Nichts. Das Nichts ist … wie soll ich es dir erklären? Denk an deinen Job bei der Post! Okay? Na also, das Nichts ist genau so, nur weniger nervig. Und was dein Leben angeht – vergiss nicht, dass du es gratis bekommen hast. Wenn du auf der Straße einen 100-Euro-Schein findest, hebst du ihn auf und hältst schön den Mund. Wenn du ihn in die Tasche steckst, überlegst du bereits, was du dir davon kaufst, richtig? Du weißt sehr gut, dass die 100 Euro nicht ewig halten werden, und du akzeptierst es. Dein Leben ist dieser 100-Euro-Schein. Sagen wir 500 Euro, um dir eine Freude zu machen. Und in Sachen Leben hast du dir nicht mal die Mühe machen müssen, dich zu bücken, um es aufzuheben. Fauler Hund!

Ich denke, Sie sind mit mir einer Meinung, die Nervensägen, die Angst vor dem Tod haben, verdienen es, in den Suizid getrieben zu werden, und der Film ihres Lebens, der vor ihrem inneren Auge abläuft, zeige nur Szenen, in denen sie Geschirr spülen! Amen.

(Aus dem Französischen von H. A.)

Charb (Stéphane Charbonnier, 1967–2015):  Les Fatwas de Charb (
Petit Traité d’intollerance, tome 1), Éditions Les Échappes: 2009.